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Ansichtssache

  • Autorenbild: Ramona Willig
    Ramona Willig
  • 26. Dez. 2023
  • 4 Min. Lesezeit

Es ist Freitagnachmittag. Die Elektriker gehen zum Empfang des neuen Bürokomplexes, in dem sie gerade gearbeitet haben.

An der Theke sitzen mehrere Sekretäre. Sie sprechen sie an: „Wo finden wir denn bitte die Toilette?“ - „Den Flur hinunter, am Büro unserer Manager und CEOs vorbei und dann die erste Tür links“, antwortet Paul. Sie bedanken sich und folgen der Wegbeschreibung. Auf dem Weg passieren sie die Büros, deren Türen weit offen stehen. Im Vorbeilaufen grüßen sie freundlich und öffnen schließlich die Tür zur Toilette. In der Kabine ist eine Frau, die sich gerade die Hände wäscht. „Was macht ihr denn hier?!“, will diese verblüfft von ihnen wissen.

„Hallo Susanne! Wir haben uns ja wirklich lange nicht mehr gesehen! Wir reparieren gerade die Lichtanlagen in den Büros im ersten Stock“, antwortet eine der Elektrikerinnen.

Diese nickt wissend. „Die sind wirklich schon lange kaputt. Hier waren kürzlich auch schon einige Dachdecker, die den Wasserschaden repariert haben.

Eine von ihnen war schwanger, hat aber trotzdem noch gearbeitet. Verrückt, oder?“

„Ja, definitiv. Die Mädels dort sind schon hart im Nehmen“, sagt eine der Elektrikerinnen anerkennend. „Aber wie läuft es denn bei dir? Ich habe gehört, dein Mann musste kürzlich ins Krankenhaus?“ Susanne nickt traurig und antwortet: „Ja, er hat sich das Bein gebrochen, und hat eine Einweisung in die Klinik bekommen. Die Rettungssanitäter ihn abgeholt und die 4 Stockwerke hinunter getragen. Im Auto ist einer von ihnen hinten geblieben und hat ihn während der Fahrt betreut. Mein Mann meinte zu mir, wie sehr er sich darüber gefreut hat, dass auch so viele Frauen den Job machen. In der Klinik wurde er dann am nächsten Tag schon vom Chefarzt operiert.“ Während eine der Elektrikerinnen sich die Hände abtrocknet und schon nach draußen geht, führt die andere das Gespräch fort. Sie fragt nach: „Vielleicht war das ja der gleiche Chirurg? Eine Freundin wurde kürzlich auch in derselben Klinik operiert, von Chefarzt Doktor Fischer.“ Susanne überlegt und entgegnet: „Ja, ich glaube, so hieß sie. Die Krankenschwestern auf Station waren ebenfalls super lieb und emphatisch. Mein Mann meinte irgendwann, dass er sich auch mal wieder gefreut hat, unter Männern zu sein.“ Sie lachen beide, beenden wenig später das Gespräch und machen sich wieder auf den Weg nach draußen.

Als sie an den Büros vorbeikommen, unterhält sich der CEO gerade mit zwei der Reinigungsfachkräften. „Mir ist aufgefallen, dass die Tische in den Kantinen zuletzt nicht desinfiziert wurden“, echauffiert sich der CEO gerade. „Könntet ihr bitte mehr darauf achten?“ Der Mann unter ihnen entschuldigt sich und verspricht, das zukünftig mehr zu beachten. Der CEO verabschiedet sich und geht zurück in das Büro. „Frau Meyer, Geschäftsführerin“, steht an der Tür.


„Gendern ist Bullshit. Richtig unnötig. Jeder weiß doch, dass Frauen mitgemeint sind!“

- Ist das so? Hast Du beim Lesen wirklich daran gedacht, dass es vielleicht eine Frau gewesen sein könnte, die Susannes Mann die Treppen hinunter getragen hat? Dass auch Frauen Elektriker*innen sein können? Und die Reinigungsfachkräfte ein gemischtes Team sind?

Damit wärst Du Eine*r von ganz wenigen (ja, Du als Leser*in kannst auch eine Frau sein! Wir meinen Dich explizit, und meinen dich nicht nur „mit“).

Es gibt unzählige Studien.


Frauen bewerben sich deutlich seltener auf Jobs, wenn ausschließlich die männliche Form verwendet wird. Warum erkennen sie denn nicht einfach, dass sie mitgemeint sind? Ist doch ihre Schuld. Ist doch offensichtlich.


Wenn jemand wissen will, welche bekannten Tennisspieler dir einfallen, wirst du vermutlich Federer und Nadal nennen. Aber wie sieht es aus, wenn ich Dich nach berühmten Tennisspielern und Tennisspielerinnen frage? Wird da vielleicht auch mal eine Serena Williams genannt, die stolze 23 Grand Slams gewonnen hat? Das sind drei mehr als je ein Mann geschafft hat. (Diesen Rekord halten übrigens - Federer und Nadal).

Ich habe kürzlich auf Instagram einen 30-zeiligen Text von der Tagesschau gelesen und im Anschluss die Kommentare. Der mit den meisten Likes war in etwa: „Immer diese Sprachverunglimpfung! Ich kann den Text gar nicht mehr flüssig lesen, weil ständig diese Gender Schei*e benutzt wird!!1!1“

Im Anschluss brauchte ich länger dafür, besagte Unverschämtheit zu finden, als ich ursprünglich gebraucht hatte, um den kompletten, langen Text zu lesen. Schließlich fand ich es. Ein einziges Wort unter den hunderten, die ich eben gelesen hatte. „Mitarbeiter:innen“ stand da.

Mir macht Gendern nichts aus, und ich bin es mittlerweile so gewohnt, dass es mir beim ersten Lesen nicht einmal aufgefallen ist.


Vielleicht sieht man aber auch nur das, worauf man achtet - selektive Wahrnehmung nennt sich das. Und je mehr ich etwas hasse, desto eher lege ich meinen Fokus darauf.

Vielleicht wäre es eine Idee, seine Sichtweise einmal zu ändern. Sich mal versuchen zu freuen, oder es eben neutral zur Kenntnis nehmen, dass sich mal wieder etwas ändert, das lebendiger nicht sein könnte - die Sprache.

Nach Jahrhunderten des „Mitmeinens“ von Frauen (böse Zungen würden es auch „Unterdrücken“ oder „Ignorieren“ nennen) ändert sich mal wieder etwas – und das fällt eben auf, oder schwer; manchen mehr, und manchen weniger.




Aber das wird nicht so bleiben. Viele von den Jüngeren verwenden Anglizismen wie „CEO“ und „Manager“ bereits ganz selbstverständlich. Ältere möglicherweise eher das (französische) Wort „echauffieren“. Aber wusstest Du, dass „emphatisch“ auch aus dem Englischen stammt?

Alle diese Worte waren einmal neu, und seltsam, und haben eine Weile gebraucht, um angenommen zu werden. Und das ist auch okay.

Irgendwann wird es auch normal sein, dass Frauen zusätzlich erwähnt werden.

Weil wir CEOs sind, Elektrikerinnen und Rettungssanitäterinnen. Wir haben uns in männerdominierten Domänen (französisch, 16. Jahrhundert) durchgesetzt und es ist endlich an der Zeit, dass sich dieser Fortschritt auch in der Sprache zeigt.

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