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Chronologie des Wahnsinns

  • Autorenbild: Ramona Willig
    Ramona Willig
  • 26. Dez. 2023
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. Jan. 2024

Es ist Weihnachten 2021 und mit den Kerzen am Christbaum geht auch mir ein Licht auf. Ich verstehe jetzt, warum die Pandemielage hier so ist, wie sie ist.

Eine Chronologie aus der Sicht einer Notfallsanitäter-Auszubildenden.




Es ist Januar 2020.

Ein Dozent berichtet und in der Berufsschule von einem neuartigen Virus, das in der chinesischen Stadt Wuhan grassiert. Ich habe noch nie etwas davon gehört. Es sei eine Erkrankung der Atemwege. Fast in apokalyptischer Manier steht er kurz vor Schluss im Klassenzimmer vor 25 SchülerInnen und verkündet: „Dieses Virus wird uns noch alle betreffen!“ Wir lachen.

 

Es ist Februar 2020.

Die ersten Fälle des neuartigen Virus tauchen in Europa auf. Ein bisschen gruselig, wie schnell es gehen kann. Die Lage scheint unter Kontrolle und die Erkrankung klingt nach einer Grippe.

An Karneval feiern wir ohne Maske und Abstand. Hätte ich damals gewusst, dass es die letzte unbeschwerte Feier für die nächsten zwei bis drei Jahre ist...

 

Es ist April 2020.

Ich habe Dienst in Mainz. Wir passieren mit dem Rettungswagen ein mir unbekanntes Gebäude: "Biotech". Mein Kollege zeigt auf den unscheinbaren Bau und sagt: „Die forschen an einem Impfstoff. Ich habe ziemlich viele Aktien gekauft und spekuliere darauf, dass sie weltweit mit die ersten sind, die einen Impfstoff gegen Covid 19 auf den Markt bringen!“

Ich nicke. Habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht. Ein Impfstoff? Davon scheint die Situation noch weit entfernt.

 

Es ist Mai 2020.

Ich fahre meinen ersten Corona Verdachtsfall. In manchen Altenheimen liegen Corona Patienten mit nicht-Corona Patienten in einem Raum. Unfassbar.

Ich trage eine Art Taucherbrille, Overall, Handschuhe, eine FFP2 Maske. Ich habe Angst. Man weiß nicht, wie sich das Virus überträgt. Hauptsächlich über Aeorosole. Aber sonst? Tröpfchen auch? Ich trage beim Desinfozieren des Autos weiterhin eine Maske, desinfiziere oft meine Hände. Ob es wohl auch an meinen Haaren klebt, frage ich mich. Sollte ich immer direkt meine Haare waschen? Ich weiß auch nicht, welche Erkrankung meine Patienten haben. Nur, dass sie Atemnot haben, und wenn sie bereits unter Asthma oder einer andere Lungenerkrankung leiden, landet auch manch 26jähriger auf der Intensivstation.

Alle haben Angst.

 

Es ist Juli 2020.

Ich war zwischenzeitlich in der Berufsschule, im Homeschooling, was mehr schlecht als recht funktioniert hat. Nun komme ich wieder auf die Wache. Ich bin bislang nur Patienten mit Corona Verdacht gefahren. Ab und zu werden die Patient*innen, sobald sie in der Klinik sind, mit einem der neuartigen Schnelltests getestet. Ich glaube, die Schnelltests sind sehr aussagekräftig.

Kurz darauf fahre ich meinen ersten bestätigten Covidfall. Und dann den nächsten.

Teilweise putzen 3 von 6 Autos gleichzeitig. Ich werde während dem Putzen von der Leitstelle angerufen, wie lange wir noch brauchen. Andere Einsätze bleiben liegen. Es gibt keinen freien Rettungswagen mehr in der Stadt.

Man spricht von Notverordnungen. Es fehlt an Masken und Oberalls und Schutzmitteln und quasi allem.


Es ist August 2020.

Alle Kliniken sind voll und rot gemeldet, was bedeutet, dass sie keine Isolierbetten mehr haben.

Ein Patient liegt im Rettungswagen und bekommt trotz Sauerstoffgabe wenig Luft.



Ich stehe vor dem Rettungswagen und telefoniere. Die städtischen Kliniken sind vollkommen überlaufen. Die im Umkreis auch. Die Leitstelle ruft zurück. Sie haben ein Bett. Es sind 40 Minuten Fahrtweg. Ich erkläre es der Ehefrau des Patienten. Sie ist besorgt und will mitfahren, aber das geht momentan nicht. Sie kann ihn auch nicht in der Klinik besuchen. Als wir gerade losfahren wollen, klingelt das Handy. Die Leitstelle: Das Bett ist nun doch belegt.

Nach etlichen Minuten endlich die Erlösung: Ein einziges freies Intensivbett ist vorhanden. Es ist das letzte in ganz Hessen.

120km einfache Fahrt, 90 Minuten. In der Klinik gibt es kostenlose Snacks für uns. Ich habe seit Stunden nichts mehr gegessen. Wir treffen ein anderes Auto – ich lache auf - es ist auch von uns. Sie haben einen Patienten verlegt und sind auch hier.

Wir fahren wieder zurück. Tanken. Reden. Sind erschöpft. Putzen. Überstunden, Einsätze eingeben, Feierabend. Dieser eine Einsatz hat sechs Stunden gedauert. Sechs. Normal sind es circa 90 Minuten.

Am nächsten Morgen geht der Wecker viel zu früh. Ich kann kaum aufstehen. Heute putzen wir während dem Dienst zweimal direkt hintereinander. Wir sind am Limit.

Ich lache nicht einmal mehr aus Verzweiflung.

 

Es ist Dezember 2020.

Die Biontech Aktien liegen bei 105€. Ich beiße mir in den Allerwertesten, dass ich damals nicht auf meinen Kollegen gehört habe und bewundere ihn für seine Weitsicht. Ich kaufe eine Aktie. Schnelltests sind nicht so zuverlässig, wie ich anfangs gedacht hätte.


Es ist Januar 2021.

Ser Impfstoff ist da.



Er ist neu und kaum erforscht. Wir haben Glück, denn Deutschland ist reich und damit eines der ersten Länder weltweit, das ihn bekommt.

Es gibt öffentliche Diskussionen bezüglich der Impfnebenwirkungen. Es ist die Rede von Bill Gates, Chips, die implantiert werden. Die Gerüchteküche hat ganz schön eingeheizt.


Eine Bevölkerungsgruppe muss also den Anfang machen. Es sind die Bewohner*innen von Pflegeheimen - und wir. Als eine der ersten in Deutschland lasse auch ich mich impfen, am 6. und 27. Januar. In einer großen Messehalle wurden Impfstraßen aufgebaut. Alles ist weiß, groß und steril. Zwischendurch sehe ich Bundeswehrsoldat*innen. Die Szene kommt mir vor wie aus einem Film.

Die Stimmung ist gelöst. Ich sehe Kolleg*innen, die sich auch impfen lassen. Sonst ist noch niemand da. Wir sind Studienteilnehmende und glücklich. Mein Sicherheitsgefühl steigt enorm. Ich bin unfassbar froh über die Impfung, obwohl ich gerade einmal 24 bin und kerngesund. Im Einsatz bin ich entspannter. Ich habe weniger Angst um meine Gesundheit und mein Leben, und davor, andere unwissentlich anzustecken.

Alles wird jetzt besser, denke ich. Ich lache zum ersten Mal wieder. Die Lösung ist endlich greifbar. Sie ist da.

 

Es ist Frühling 2021.

Die Impfstraßen, in denen ich ehrfürchtig auf die langersehnte Spritze gewartet habe, sind nun zeitweise mein Arbeitsplatz. Ich stelle als Teil eines Teams die medizinische Versorgung dort sicher.

Immer mehr Impfwillige trudeln ein. Jeden Tag wird eine neue Impfstraße fast feierlich eröffnet. Es gibt zudem immer mehr Impfstoff. Ich blicke in strahlende, glückliche und erleichterte Gesichter. Die Leute tragen ihren Mund-Nasen-Schutz tatsächlich so, dass er diese Bezeichnung auch verdient.

Mit der Impfbewegung steigt auch der Protest. Sie sind laut, aber es ist die Minderheit. Ich bin optimistisch. Bis zum Winter schaffen wir die 80% Impfquote.



Es Sommer 2021.

Die Leute haben die Schnauze voll, und wollen in den Urlaub. Verständlich. Weniger verständlich, warum kaum getestet wird. Letztes Jahr wusste man es nicht besser. Dieses Jahr ist es Versagen. Eine Freundin berichtet, wie die Kontrollen am Flughafen aussahen – manch einer fragt sich auf der Suche nach jemandem, den der Impf- oder Teststatus interessiert: „Bist du mein Vater, denn der war auch nie da.“

Es stellt sich heraus, dass Covid 19 eine Gefäßerkrankung ist, die auch zunehmend jüngere trifft.

Eine Kollegin von mir behandelt auf der Intensivstation eine schwangere Frau Mitte 20. Sie hat ihren Covid-positiven Onkel besucht. Nun liegt sie hier, wird beatmet und am Leben gehalten, bis das Kind auf der Welt ist. Danach nimmt sich das Virus ein weiteres Opfer.


Währenddessen verfolge ich den Impffortschritt. Er stagniert. Im Impfzentrum tröpfeln ab und an ein paar Leute herein. Ein eindrucksvolles Bild, als der Arzt in weiß abends auf der Straße Passanten fast vom Rad holt, um ihnen die letzte Dose Biontechimpfstoff anzudrehen. Ich denke an Skandale, dass Impfstoff verworfen wird, und frage mich, während ich ihm geschlagene zehn Minuten dabei zusehe, wie er wild gestikulierend alles gibt, und schließlich Erfolg hat – ob die Leute auch diese Seite sehen. Wie motiviert wir sind. Dass wir alles geben.

Am nächsten Tag nehmen 40% ihren Impftermin nicht wahr.

 

Es ist Juli 2021.

Ich fahre einen Anfang 30 jährigen in die Klinik. Er ist ungeimpft und bekommt keine Luft. Ich mache ihm keine Vorwürfe. Menschlichkeit, Unparteilickeit, Neutralität, Universalität, Freiwilligkeit, Einigkeit, Unabhängigkeit. Das sind unsere Grundsätze.

Wir helfen jeden, unabhängig ihrer getroffenen Lebensentscheidung. Ich überrede ihn, mitzukommen. Er hat Angst. Ich muss ihn davon abhalten, während der Fahrt die Tür aufzureißen und in die Flucht zu ergreifen. Die Schwester in der Klinik ist sauer, als sie den Impfstatus erfährt. Sie lässt es ihn spüren. Sie ist Bad Cop, ich bin Good Cop. Sie hat recht, aber es hilft nicht. Ich erkläre den Patienten, was jetzt passiert, und er beruhigt sich und bleibt dort. Hätte man diese Situation verhindern können? Sehr wahrscheinlich.

 

Es ist Herbst 2021.


Die Inzidenzen steigen wie die Türme an Impfstoff, der herumliegt und die Anzahl der Patienten auf den Intensivstationen. Selbst Tetris hilft hier nicht mehr.

Viele sind ungeimpft. Viele sind unsolidarisch. In Sachsen regiert der Hass und die Wut.

Zwischen „Spaziergängen“ der Freien Sachsen (früher, als es gesellschaftlich noch akzeptiert war, hätte man einfach Nazis gesagt und die SS-Uniform aus dem Schrank geholt, um sich anzuschließen) und Coronapartys stehen wir.



Wir sind fassungslos. Wütend. Enttäuscht.

Es hagelt Kündigungen. Die Leute sind am Ende.

Der Ton wird rauer. Ich kann nicht glauben, dass ich mich so getäuscht habe und will es nicht wahrhaben. Die Leite müssen doch sehen, wie schlimm es ist!

Manchmal habe ich das Bedürfnis, es Leuten auf der Straße ins Gesicht zu brüllen. Wenn ihr Zinken wieder herausschaut, die Maske auf dem Kopf sitzt oder der Mann hinter mir beim Bäcker eineinhalb Meter wohl genauso gut abschätzen kann wie 18 Centimeter.


Es ist Spätherbst 2021.

Eine schaurige Fernsehdokumentation über die dramatische Lage in deutschen und internationalen Kliniken jagt die nächste. Ich bin müde. Warum verstehen es die Leute nicht? Man kann nicht mehr sagen „ich habe es nicht gewusst“. Kaum eine*r lässt sich noch impfen. Währenddessen boostern wir uns. Haben Fieber, fallen aus. Für unsere Gesundheit, unsere Freunde, Familien. Für die Patienten. Denn wenn wir ausfallen, ist niemand mehr da.

Währenddessen werden die Tests abgeschafft.

 

Es ist Weihnachten 2021.

Das Fest der Liebe ist ein Fest der Spaltung.

Es ist nicht ausgeglichen. Ich lasse mich impfen, als eine der ersten in Deutschland. Ich kläre auf, bin rücksichtsvoll, halte meine Wut im Zaum. Ich mache keine Vorwürfe. Ich gebe Sauerstoff, intubiere, ziehe Medikamente auf. Ich drehe den 150kg Patienten zu zweit auf die Seite. Ich wische ihm den Arsch ab. Ich bereite Perfusoren an, trage FFP2 Maske, Overall, 2 Paar Handschuhe, und ein Visier. Ich nehme Rücksicht. Desinfizieren, trage, schleppe, versorge.

Der Patient tut nichts. Er atmet nicht einmal mehr selbstständig. Ich nehme es hin.

Wenn er stirbt, spreche ich mit den Angehörigen. Einfühlsam, sie sind auch alle nicht geimpft.

Wenn er wieder gesund wird, sagt er: „Das war ja gar nicht so schlimm. Ich würde mich wieder nicht impfen lassen.“


Ich frage mich:

Wo ist deine Solidarität? Warum muss ich Solidarität und Rücksicht für uns beide aufbringen, aber du keine?

Warum werden Intensivstationen für Covid freigehalten, aber ein Mensch mit einer Hirnblutung stirbt?



Man redet von Solidarität aber ich habe das Gefühl, dass nur wir solidarisch sein müssen.

Seit Monaten predigen wir es. Jeden Tag hört man es in den Nachrichten, und wünscht sich oft, taub zu sein, weil man es nicht mehr hören kann. Last Christmas ist nichts dagegen.


Die Invasion der schlechten Nachrichten schreitet voran.


Es ist Februar 2022

Omikron grassiert in Deutschland. Vor allem Kinder sind erkrankt, was ich leidvoll miterlebe, als ich im Praktikum in der Kindernotaufnahme bin. Die kleinen brüllen mir stundenlang ins Ohr, leider auch die Coronapositiven. Am Samstag, nach meinem letzten Arbeitstag hat es mich dann auch erwischt. Mein Test ist positiv und ich falle 10 Tage lang in meinem Urlaub aus.


Es ist April 2022

Langsam haben wir wieder mit Präsenzunterricht in der Berufsschule begonnen. Auf den Intensivstationen liegen weniger Patient*innen, aber es fehlt auch an Personal. Viele haben gekündigt.

Die Isolationszeit wird auf fünf Tage verkürzt.


Juli 2022

Bürger*innen können sich an vielen Stellen kostenlos testen lassen. Die Leute sind vernünftig. Ich frage mich, wann alles angefangen hat. Ist das wirklich schon zwei Jahre her?

 

 

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